Angesichts der Verwilderung politischer Auseinandersetzungen ist es Zeit für eine Rehabilitation der Moral. Sie ist systemrelevant für das Überleben unserer Demokratie.

Politik, der Wahlkampf insbesondere, war noch nie ein Beispiel für den gepflegten Austausch von Positionen und Meinungen. Robuste Typen wählten nicht selten den ruppigen Clinch. Das galt für Politiker und Wähler gleichermaßen. Und doch schleicht sich eine gewisse politische Nostalgie ein, wenn wir die jüngste Entwicklung betrachten. Zum einen hat das Maß an Populismus auf Seiten der Politik zugenommen, auf der anderen Seite die Hemmungslosigkeit des Wahlvolks. Während die einen auf Teufel komm raus um die Aufmerksamkeit und Unterstützung der Wähler buhlen, überziehen diese Politiker mit grenzenloser Ablehnung und Respektlosigkeit.

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass wir es mit zwei Seiten derselben Medaille zu tun haben. Für die Verwilderung des Umgangs miteinander gibt es indessen zahlreiche Erklärungsversuche. Wobei vor allem das Verhalten von Wählerinnen und Wählern stets mit großer Einfühlung kommentiert wird. Wer den Populisten auf den Leim geht, gilt in der Regel als Protestwähler, der sich von den Regierenden nicht mehr verstanden und vertreten fühlt. Und wer sich radikalen Parteien anschließt, die Medien beschimpft und hasserfüllte Parolen skandiert, gilt als Opfer der gesellschaftlichen Modernisierung.

Die Schuld an der Verwilderung des Umgangs tragen in der Regel nie die Menschen selber. Schuld sind vielmehr die Verhältnisse oder eben die anderen — jene, die den engen Draht zum Wahlvolk angeblich verloren haben. Das scheint ein Gesetz der politischen Korrektheit zu sein und der Überzeugung zu unterliegen, jedes Verhalten habe soziologische Gründe. Es folgt in der Regel die krampfhafte Suche nach objektiven Erklärungen.

Nun wird man die Verantwortung der etablierten Politik kaum in Abrede stellen können, dass sich viele Menschen von dieser nicht mehr ausreichend repräsentiert fühlen. Die Schweigespirale ist außerdem ein Teufelskreis, der dazu führt, dass im öffentlichen Gespräch nur mehrheitlich vertretene Positionen Ansehen genießen. Da kann sich schnell der Eindruck einstellen, dass abweichende Auffassungen im medialen und politischen Diskurs diskriminiert werden. In Zeiten von Facebook, Twitter und Co. allzumal. Dann heißt es: Man wird doch noch mal sagen dürfen, …

Was dann allerdings gesagt wird, ist oft an Menschenverachtung, Vorurteil und Militanz nicht zu überbieten. Und es stellt sich die Frage: Ist das alles zu entschuldigen mit dem Hinweis auf die Verhältnisse, das Versagen der Politik oder die Eigendynamik der Medien? Oder ist das Verhalten von Menschen, unabhängig von ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage, schlicht und ergreifend auch eine Frage des Anstands?

Muss ich, obwohl ich zum Beispiel in prekären Verhältnissen in Ostdeutschland lebe, zwangsläufig die AfD wählen und rassistisch gegen Flüchtlinge agieren? Oder darf ich mich auch dann an bestimmte moralische Grundwerte erinnern lassen, die immer gelten — egal, wie meine persönliche Situation aussieht? An Respekt und Höflichkeit, Mitmenschlichkeit und Solidarität, an die unveräußerliche Geltung der Menschenwürde und die Verantwortung vor der Geschichte?

Zugegeben, auch Moral ist nicht angeboren, sie hat stets etwas mit Erziehung und Bildung zu tun. Damit, dass Dummheit und Dumpfheit überwunden werden. Es fällt indessen schwer zu glauben, dass die genannten Werte in unserem Land nicht ausreichend vermittelt werden. Nein, für Hass und Gewalt, Rassismus und völkisches Denken, für die Missachtung eines menschlichen und zivilen Umgangs miteinander gibt es keine Entschuldigung. Das gilt für Politiker und Wähler gleichermaßen.

Politik, auch eine Wahl, ist nicht zuletzt eine Frage des Anstands. Deswegen ist es Zeit für eine Rehabilitierung der Moral als zentraler Kategorie der politischen Auseinandersetzung. Sie ist systemrelevant für das Überleben unserer Demokratie.

Michael Strauss