Wer unterwegs ist, vertraut darauf, dass der Fremde ihn nicht als Feind betrachtet, sondern als Weggefährten. So entsteht ein Bewusstsein für den Frieden.

Unterwegs liegt der Ort der Erkenntnis. Unterwegs erkennen wir, dass wir Reisende sind – und deshalb angewiesen auf Orientierung und den Anderen, der uns die Hand reicht. Damit das Fremde vertraut wird und Vertrauen entsteht zwischen Unterschiedlichen. Unterwegs können wir klug werden – und weise.

Wir verstehen: Als Reisende sind wir fremd, nahezu überall. Wir brauchen Wegzeichen und den guten Willen derer, für die wir fremd sind. Darauf hoffend, dass sie in uns nicht nur den Fremden sehen, sondern – mit einem zweiten Blick – den Mitmenschen, den Weggefährten, ja den Nächsten.

Unterwegs entsteht ein Bewusstsein für den Frieden. Wir alle sind Reisende auf der Erde, niemand von uns hat hier eine bleibende Stätte. Wir brauchen den zweiten Blick, damit wir in dem Anderen den Menschen sehen, der Anspruch auf dieselbe Würde hat wie wir, denselben Anspruch auf Leben, Freiheit und Glück.

Wie schmerzlich müssen wir diesen Blick in unseren Zeiten vermissen, wenn wir nach Osten schauen, nach Westen und nach Süden – und auch in unser eigenes Land. Überall herrschen Kräfte, die in dem Fremden nur den Gegner, ja den Feind sehen. Mit der Folge, dass die Menschlichkeit der Gewalt zum Opfer fällt. Wären sie doch mit uns unterwegs!

Wie bedeutsam kann da die Kunst sein, die uns einen zweiten Blick anbietet, der die profane Materialität des Vorfindlichen gleichsam aufhebt und durchbricht. Sowohl der Bildkunst als auch der Wortkunst kann eine Poesie innewohnen, die uns verbindet mit tieferen und höheren Sphären; die uns emotional und intellektuell bewegt – und uns so als Kulturwesen ausweist, die zum Frieden fähig sind.

Für den Liebenburger Künstler Gerd Winners war der Gedanke des Unterwegsseins immer wieder wegleitend. Angefangen beim traumatischen Verlust seiner Heimatstadt Braunschweig im Zweiten Weltkrieg. In der Folge hat ihn das Thema der Stadt und die Frage nach der Beheimatung des Menschen in einer unwirtlichen Welt künstlerisch umgetrieben. Seine Kunst hat ihn an viele Orte dieser Welt geführt.

Doch das Unterwegssein ist nicht nur eine Frage des geographischen Aufbruchs und der äußeren, physischen Mobilität. Unterwegs zu sein, ist auch eine Frage der inneren Haltung. Sie kennzeichnet ein Leben, das offen bleibt für neue Erfahrungen und Eindrücke; das nach vorne orientiert ist, ausgespannt in die Zukunft.

In der Erwartung, dass unsere Geschichten noch nicht auserzählt sind, dass noch etwas kommt und unsere Welt nicht zum Teufel gehen muss, obwohl es manchmal so aussieht. Unterwegs zu sein, heißt auch, die Hoffnung nicht aufzugeben, dass es gelingen kann, die Dinge zum Besseren zu wenden.

Die Kunst ist kein Rezept zur Weltrettung. Weder die Bild- noch die Wortkunst bergen in sich eine geheimnisvolle Zauberformel, die das vermöchte. Aber die Kunst zeigt, dass die Welt nicht in vermeintlichen Zwangsläufigkeiten aufgehen muss. Sie verweist auf die Kraft des Möglichen und hält einen Riss offen, der Licht in unsere Welt fallen lässt, wie es der kanadische Singer-Songwriter Leonhard Cohen einmal formuliert hat: „There’s a crack in everything. That’s how the light gets in.“

Michael Strauss

Der Text ist aus Anlass der Ausstellung „unterwegs“ mit Gerd Winner in der Braunschweiger Jakob Kemenate entstanden (24.1. – 23.2.2025).

Buch „unterwegs“ von Gerd Winner & Michael Strauss