Angesichts der Herausforderungen unserer Zeit brauchen wir einen staatsbürgerlichen Konsens darüber, welche Werte wir teilen.

Dass der Begriff „Leitkultur“ geeignet sein könnte, eine Debatte über das Selbstverständnis der Deutschen zu führen, ist mit Fug und Recht zu bezweifeln. Zu sehr verbindet sich damit die Attitüde einer konservativen Elite, die sich anderen überlegen fühlt. Dass aber eine solche Debatte sinnvoll ist, daran dürften ebenso wenig Zweifel bestehen. Denn unsere Gesellschaft ist starken Herausforderungen ausgesetzt. Dazu gehört die Integration von Menschen ausländischer Herkunft genauso wie die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Hetzern.

Es geht durchaus um die Frage, was unsere Gesellschaft zusammenhält und welche Werte uns in unserem Land leiten. Dabei leistet das Grundgesetz einen wichtigen Dienst. Hier finden sich alle Rechtsnormen, die für unsere Demokratie bindend sind. Allen voran die Grundrechte, wie die Menschenwürde, die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder die Meinungsfreiheit. Aber reicht ein Verweis darauf als Identität stiftende staatsbürgerliche Haltung aus?

Zu Recht tut sich Deutschland mit einer emotionalen Verbundenheit zum eigenen Land schwer. Das liegt vor allem am Nationalsozialismus und seinen monströsen Verbrechen. Die Erinnerung daran und die Verantwortung, die daraus erwächst, verbieten jeden Nationalstolz, der das Schwenken von Deutschlandfahnen bei Fußball-Länderspielen übersteigt. Ein nüchternes, aufgeklärtes Nationalbewusstsein ist uns ins Stammbuch geschrieben. Wir wissen, wie schnell nationaler Überschwang ins Verderben führen kann.

Vielleicht vermissen wir aber gerade deshalb ein gemeinsames gesellschaftliches Fundament, wenn die Zeiten rauh und unübersichtlich, anstrengend und bedrohlich werden. Deutschland kennt kaum ein säkulares Glaubensbekenntnis, das alle Bürgerinnen und Bürger teilen. Anders als zum Beispiel in Amerika fehlt eine Zivilreligion, die diesseits religiöser Bekenntnisse einen staatsbürgerlichen Konsens formulieren könnte.

Nun spricht aber vieles dafür dass der ehemalige Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde Recht hatte, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann; dass er die „moralische Substanz des einzelnen“ und die „Homogenität der Gesellschaft“ braucht. Eine Gesellschaft, die an den Rändern ausfranst, in Parallelgesellschaften zersplittert und in der Mitte erodiert, bietet dafür keine guten Voraussetzungen.

Wir müssen uns hüten, neuen nationalen Leidenschaften zu verfallen, aber wir brauchen angesichts einer verschärften Globalisierung und ihrer Risiken eine positive staatsbürgerliche Haltung, die möglichst viele teilen: ob Christen oder Muslime, Einheimische oder Zugewanderte, Frauen oder Männer. Damit wir mit innerer Beteiligung sagen können: Ich bin Deutschland, ich bin Europa.

Jeder kann in unserem Land nach seiner Façon selig werden. Die Konsequenz darf aber nicht sein, dass wir die Freiheiten unserer Demokratie in Anspruch nehmen, ohne uns dafür mitverantwortlich zu fühlen, dass sie erhalten bleiben. Ihre Wertschätzung gehört zwingend zu einem gemeinsamen Selbstverständnis. Das haben wir nicht zuletzt aus unserer Geschichte gelernt. Deshalb gehört auch die Bereitschaft zum Gedenken an Krieg und Gewaltherrschaft zu den Werten, die unsere Gesellschaft zusammenhält.

Und natürlich geht es nicht ohne eine gemeinsame Sprache und eine offene Kommunikation, die von Toleranz und der Bereitschaft geprägt ist, Kritik und Gegenrede zu akzeptieren. Nicht zuletzt brauchen wir ein Bekenntnis zum Rechtsstaat in seiner säkularen Ausprägung. Nur so bleiben die individuellen Lebensentwürfe und Weltanschauungen Mosaiksteine einer miteinander geteilten, vielstimmigen und friedlichen Gesellschaft.

Michael Strauss