Warum wir meinen, ewig zu leben und warum das sogar stimmen könnte. Eine Meditation.
Wie viele Jahre können wir ewig leben? 60, 70, 80? Solange die Anderen sterben und wir nicht. Ihr Tod macht uns glauben, das Schicksal würde uns verschonen. Wir stehen auf dem Balkon und sehen die Welt an uns vorüberziehen. Als großes Schauspiel. Wir ergötzen uns daran als Zuschauer, die sich wohlig gruseln, weil sie nicht selber beteiligt sind. Während die Anderen untergehen, bleiben wir am Leben, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Schon oft ist uns der Tod nahegekommen. Manchmal fehlten nur Bruchteile von Sekunden und er hätte uns ereilt. Doch er ging vorüber, als hätte er kein Interesse an uns, als triebe er Schindluder mit unserer Angst vor ihm. Dabei war es bloß noch nicht unsere Stunde. Am Ende vergisst der Tod uns nicht, darauf ist Verlass. Auch wir stehen zu unserer Zeit vor der letzten Tür – und werden hindurchgehen. So, wie durch die vielen anderen Türen im Laufe unseres Lebens.
Und wie so oft, wissen wir nicht, was uns hinter der Tür erwartet. Ewiges Leben? Eine neue Existenz in einem anderen Zeit-Raum-Kontinuum? Im Licht göttlicher Gegenwart? Und wie werden wir die Schwelle übertreten? Getröstet und gehalten, wie es der christliche Glauben in Aussicht stellt? Um dort zu sein, wo Anfang und Ende eins sind und Gott uns teilhaben lässt an seiner Existenz, die zu beschreiben uns die Worte fehlen, weil wir nur Worte für unsere Welt haben?
Der Tod ist ein biologisches Faktum, das ewige Leben eine metaphysische Hoffnung, gegen allen Anschein und die Schwerkraft unseres Körpers. Asche zu Asche, Staub zu Staub, Erde zu Erde. Die Auferstehung von den Toten ist keinesfalls eine zombiehafte Wiederbelebung, sondern der Eintritt in eine neue Existenz nach dem Tod des Todes, die der christliche Glaube denen verheißt, die der Gemeinschaft mit Gott teilhaftig geworden sind.
So ist der Totensonntag zum Ewigkeitssonntag geworden. Am Ende zeigt sich Licht in der Dunkelheit der langen Nächte, am Übergang vom Alten zum Neuen. Wie anders können wir davon sprechen als in Poesie? In Bildern und Gleichnissen, die über uns hinausweisen, wie der Weg aus dem Tal den Horizont aufreißt, wenn wir den Berg erklommen haben. Wir erwarten den Blick in die Ferne, auch wenn er uns erst am Ende gewährt wird.
Das Letzte zu denken, gehört zum Denkwürdigsten, dem wir nachspüren können. Es führt uns an die Grenze unserer Vorstellungskraft und darüber hinaus. Wir können davor zurückschrecken und das ewige Leben als religiöse Folklore verabschieden. Oder wir können es im Diesseits suchen, die Auferstehung als Akt menschlicher Selbstermöglichung verstehen, die aus der Mobilisierung eigener Energie immer wieder einen neuen Anfang schafft. Bis zum letzten Atemzug.
Das ist nicht nichts, aber nicht das ewige Leben. Das ewige Leben beginnt da, wo wir uns selbst aus der Hand geben, uns fallen lassen, weil wir darauf vertrauen, nicht am Boden zu zerschellen, sondern aufgefangen zu werden, geborgen zu sein in einem Jahrtausende alten Zuspruch: Ich bin für dich da und gehe mit dir. Ein geheimnisvoller Zuspruch, gegen alle wissenschaftliche Evidenz, der leben lässt und leben hilft. Nicht wir selbst sind der Grund unseres Lebens; wir leben vielmehr von Voraussetzungen, die wir selber nicht schaffen können. Wir halten stand, weil wir gehalten werden.
Wenn es um das Letzte geht, ist mit unserer Kraft nichts getan. Sie ist und bleibt endlich und endet oft früh und schnell. Wie wir es auch drehen und wenden, am Ende ist entscheidend, was wir glauben. Ein Angebot finden wir in der Bibel: Der „Ich bin für dich da und gehe mit dir“ verbindet uns mit unseren Müttern und Vätern, mit dem Leben vor uns und nach uns. Im Vertrauen darauf haben Millionen gelebt. In der Hoffnung, dass wahr ist, was uns von alters her zugesagt ist.
Was ist das Leben? Im Kern dies: Vertrauen und Hoffnung. Im Vertrauen und in der Hoffnung gewinnt der Mensch auf immer und ewig das Leben. Denn im Vertrauen und in der Hoffnung hat er Anschluss an die Quelle des Lebens gefunden, die niemals versiegt. Das ewige Leben ist ein Geheimnis. Der Charakter von Geheimnissen ist aber, dass wir sie entdecken können.
Michael Strauss