Mit Entsetzen müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass der islamische Fundamentalismus der Taliban stärker ist als die Militärmacht des Westens. Wer gedacht hat, Afghanistan sei bereit für die Demokratie, sieht sich getäuscht. Doch es war eine Selbsttäuschung, die politisch lange Zeit gewollt war.

Hinterher ist man immer schlauer, heißt es jetzt, wo Afghanistan an die Taliban verloren ist. Doch das ist falsch. Viele waren schon vorher schlau genug, um zu wissen, dass der Versuch des Westens, Afghanistan mit militärischer Gewalt in ein demokratisches Land zu verwandeln, zum Scheitern verurteilt war. Wie sonst kann man sich die klugen Analysen erklären, die jetzt genau das tun? Erklären, warum der Versuch scheitern musste.

Jetzt hören wir von den Experten, woran es gelegen hat. Sie wussten es schon früher, doch ihr Wissen war offenkundig politisch nicht erwünscht. Schon 2010 verursachte die damalige Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, einen Eklat mit ihrer Formulierung „Nichts ist gut in Afghanistan.“ Sie wurde zu einem prominenten Beispiel für politisch unerwünschte Kommentare. Nachträglich möchte man ihr geradezu prophetische Fähigkeiten attestieren.

Denn heute ist noch viel weniger gut in Afghanistan als in den zurückliegenden Jahren. Und die Gründe dafür gewinnen nun eine breite Öffentlichkeit, weil das Scheitern der Militäraktion mit keiner rhetorischen Dialektik mehr zu kaschieren ist. Dass Deutschlands Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt werde, wie der ehemalige Verteidigungsminister Peter Struck 2002 sagte, war schon damals lediglich eine taktische Floskel.

Sie verdrängte die Tatsache, dass die afghanische Gesellschaft tief zerklüftet ist, geprägt von zahlreichen Stammesgruppen und Kriegsherren, die ihre partikularen Interessen über ein gemeinsames Interesse an einem funktionierenden Staat stellen. Ein demokratischer Staat mit einer entsprechend gewählten Regierung blieb für sie kulturell ein Fremdkörper. Mit der Folge, dass dieser Staat in der afghanischen Gesellschaft kaum Rückhalt gefunden hat.

Zumal er vielfach korrupt und nicht in der Lage war, seine Bevölkerung vor dem Terror der Taliban zu schützen. Selbst der afghanischen Armee fehlte offenkundig die innere Verbundenheit mit dem Staat, um dessen Verteidigung willen sie aufgebaut und ausgestattet worden war. Sie war eine Armee ohne Moral oder sogar unterwandert von Taliban-Kämpfern.

So stellte die rasche Machtübernahme der Gotteskrieger für Experten keine Überraschung dar. Und auch die politisch Verantwortlichen hätten wissen können, ja wissen müssen, wozu der Rückzug der westlichen Soldaten aus Afghanistan führt. Dass sie es versäumt haben, ihre Staatsbürger, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und afghanischen Helfer rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, ist ein politisches Versagen, dessen Folgen uns noch intensiv beschäftigen wird. Da ist es kein Trost, dass sich dieses Versagen nicht nur auf die deutsche Politik beschränkt, sondern alle westlichen Staaten betrifft, die in Afghanistan engagiert waren.

Was bleibt, ist eine Lektion, die wiederum auch nicht neu ist: Dass ausländische Truppen keinen Staat erhalten können, den die eigene Armee nicht bereit ist zu verteidigen. Dass die westliche Demokratie kein Exportmodell ist, das ohne weiteres in einem anderen Kulturkreis implementiert werden kann. Und dass militärische Macht keine hinreichende Gewähr für den Aufbau eines Landes bietet. Was wir in Afghanistan erneut erleben, ist das Scheitern machtpolitischer Interessen, die mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden sollen.

Stattdessen obsiegt eine starke Idee, die Menschen verbindet und Sinn für ihr Leben stiftet. Der Glaube zeigt sich wieder einmal stärker als Panzer und Raketen. Leider allerdings ein Glaube, der den Islam fundamentalistisch und politisch interpretiert und in dieser Ausprägung allem, was westlichen Demokratien heilig ist, feindlich entgegensteht.

So wird Afghanistan – geradezu vorhersehbar – wieder eine islamische Diktatur, die den Regeln der Scharia folgt anstatt einer demokratischen Verfassung. Dass dieses Land künftig autoritär regierten Staaten näherstehen wird als den westlichen Demokratien, liegt auf der Hand. Russland und China haben sich schon in Position gebracht.

Angesichts dieser Lage bleibt neben Entsetzen und der Einsicht in das eigene Scheitern nicht viel: vielleicht – auch noch einmal – die Mahnung, dass eine Militäraktion stets „ultima ratio“ bleiben sollte, das allerletzte Mittel. Und die Hoffnung, dass viele Menschen aus Afghanistan gerettet werden können.

Michael Strauss