Der Angriff auf die Ukraine offenbart nicht nur die geopolitischen Interessen des russischen Präsidenten. Er zeigt auch die Ideologisierung des christlichen Glaubens durch hohe Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche. Dagegen muss die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen ihre Stimme erheben.

Der Schock über den Krieg in der Ukraine sitzt tief. Die europäische Friedensordnung – zerstört; internationale Verträge – gebrochen; die Menschlichkeit – im Würgegriff militärische Gewalt. Der Traum von einem friedlichen Europa, das sich ziviler Formen der Konfliktlösung bedient – ausgeträumt. Stattdessen sind Völker und Staaten wieder von imperialistischen Leidenschaften bedroht. Mit brutaler Machtausübung verfolgt der russische Präsident seine geopolitischen Interessen. Befeuert von einem völkischen Nationalismus, der die russische Identität und Kultur gegen das westliche Modell von Demokratie und Freiheit inszeniert. Es ist ein illiberales, autokratisches Staats- und Gesellschaftsbild, das in jüngster Zeit die Züge einer Diktatur angenommen hat. Im Kern verweigert es sich einer gesellschaftlichen Modernisierung ebenso wie den Standards der Humanität.

Wir wissen, dass die allergrößte Mehrheit der Russen friedliebende Menschen sind, die den Krieg verabscheuen. Gleichzeitig aber fällt die antiwestliche Propaganda ihres Präsidenten im Land durchaus auf fruchtbaren Boden. Insbesondere, wenn sie mit einem nationalistischen Pathos aufgeladen wird, das sich auch aus der Erinnerung an den heldenhaften Kampf gegen den Nationalsozialismus speist. Nicht von ungefähr bemüht der russische Präsident immer wieder dieses Narrativ. Es gehört zu den identitätsstiftenden Merkmalen des russischen Volkes.

Angesichts dessen identifiziert die Politik im Westen eine Zeitenwende und reagiert mit dramatischen Kursänderungen, die wir uns vor kurzem kaum vorstellen konnten. Wir erleben wieder eine existenzielle militärische Bedrohung, die unsere Kräfte zur Selbstverteidigung herausfordert. Einschließlich der Verstärkung eigener militärischer Präsenz. Damit steht nicht zuletzt die Friedensethik der Kirchen in Frage, die in den vergangenen Jahrzehnten der Logik militärischer Gewalt weitgehend abgeschworen hatte. Der Krieg war darin eigentlich nicht mehr vorgesehen.

Die Kirchen orientierten sich an der Losung der ersten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) 1948 in Amsterdam, die kurz und knapp lautete: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ Eine Losung, die nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs unmittelbar einleuchtete. Nicht mehr den Krieg wollten sie rechtfertigen, nur noch den Frieden – einen Frieden in Gerechtigkeit, der die Aussöhnung zwischen ehemaligen Feinden ermöglicht.

Und tatsächlich ist in dieser Hinsicht nach 1945 viel geschehen. Die europäische Einigung erzeugte im politischen Feld eine Friedensdividende, von der wir bis in diese Tage zehren konnten. Und unter den Kirchen schuf die ökumenische Bewegung ein Bewusstsein dafür, dass Gemeinschaft trotz Unterschiede möglich ist und ein gemeinsames christliches Ethos Gräben überwinden kann.

Besonders wirksam wurde dieses Bewusstsein im konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung mit seinen internationalen Kristallisationspunkten zwischen den Vollversammlungen des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) 1983 in Vancouver (Kanada) und 1991 in Canberra (Australien). Der ÖRK berief sich dabei auf keinen Geringeren als Dietrich Bonhoeffer, der wegen seines Widerstands gegen den Nationalsozialismus kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet worden war.

Angesichts der drohenden Kriegsgefahr hatte er 1934 bei einer Jugendkonferenz im dänischen Fanö ein weltweites Konzil vorgeschlagen, das die Staaten zum Frieden mahnen sollte. Ein Vorschlag, der 1985 in Düsseldorf vom Deutschen Evangelischen Kirchentag angesichts des Wettrüstens von NATO und Warschauer Pakt aufgegriffen wurde. Auf Initiative des Friedensforschers Carl Friedrich von Weizsäcker verabschiedete der Kirchentag einen Aufruf, in dem die Kirchen weltweit aufgefordert wurden, ein ökumenisches Konzil einzuberufen, um ein Wort zu sagen, „das die Welt nicht überhören kann“.

Mit der Europäischen Ökumenischen Versammlung 1989 in Basel und der Weltversammlung 1990 in Seoul wurde die Idee Wirklichkeit. Aber die Geschichte war bereits darüber hinweggegangen. Mit dem Fall der Mauer, dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem Zerfall der Sowjetunion war auch die gegenseitige militärische Bedrohung hinfällig geworden. Ein dauerhafter Frieden in Europa schien eine realistische Perspektive zu sein. Gar unter den Bedingungen westlicher Vorstellungen von Staat und Gesellschaft. Waren es doch Demokratie und Freiheit, die dem Kommunismus seine Überzeugungskraft genommen hatten.

Doch 1989 war nicht das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama), sondern nur die Einleitung einer weiteren Zeitenwende, die wir gegenwärtig erleben. Sie ist geprägt von einer militärischen Konfrontation, die erneut ideologische Züge trägt. Es ist die Konfrontation zwischen zwei Weltbildern. Während die westliche Welt ihr liberales Weltbild weiter formte, bildete sich im Osten eine Abneigung dagegen und eine Sehnsucht nach traditionellen Werten – zumindest bei politischen Führern.

So geht es in der neuen Konfrontation mit Russland nicht nur um Putins geostrategische Interessen, sondern auch um unterschiedliche kulturelle Dispositionen. Das macht den Konflikt nicht weniger gefährlich, im Gegenteil. Wer ein höheres Ziel verfolgt, entzieht sich oft dem zweckrationalen politischen Kalkül und ist deswegen schwer einzuschätzen. Putin ist nicht wahnsinnig, er bewegt sich nur außerhalb unseres liberalen westlichen Denkens.

Dabei kann er sich nicht zuletzt auf die Russisch-Orthodoxe Kirche stützen. Sie stellt geradezu den religiösen Überbau für sein Streben nach imperialer Macht und kultureller Vorherrschaft zur Verfügung. So hat der Moskauer Patriarch Kyrill I. die russische Invasion immer wieder gerechtfertigt als legitimen Kampf gegen westliche Verhaltensweisen, die angeblich russisch-orthodoxen Werten widersprechen. Man befinde sich in einem Kampf, der keine „physische, sondern eine metaphysische Bedeutung hat“, wird er zitiert. Die Gegner Russlands seien „Kräfte des Bösen“.

Angesichts solcher Äußerungen ist nicht nur die politische, sondern auch die kirchliche Diplomatie gefragt. Erneut könnte die Stunde gekommen sein, dass die Kirchen in ökumenischer Geschlossenheit und vermittelt durch ökumenische Institutionen ein Wort sprechen, „das die Welt nicht überhören kann“. Nicht nur als klare Absage an den Krieg, sondern auch als Mahnung, dass der christliche Glaube nicht für ideologische Zwecke missbraucht werden darf.

Eine Erkenntnis, die in der Barmer Theologischen Erklärung 1934 gegen den heilsgeschichtlichen Anspruch des Nationalsozialismus unüberbietbar formuliert worden ist. Dort heißt es in der ersten These: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“

Was für den deutschen Protestantismus im Dritten Reich galt, gilt auch für die russische Orthodoxie im Reich Putins. Es gilt für die Kirche überall und zu allen Zeiten. Viele Vertreter der Orthodoxie wissen das, wenn sie auch aus Angst vor Repressionen schweigen. Umso wichtiger wäre es, wenn die ökumenische Gemeinschaft ihnen eine unüberhörbare Stimme gäbe, damit den ideologischen Eiferern in Russland wenigstens die Deutungshoheit über ein angemessenes Verständnis des christlichen Glaubens und der Kirche klipp und klar entzogen wird.

Michael Strauss