Die Corona-Krise stellt unsere Mitmenschlichkeit auf die Probe. Der Nächste darf nicht unser Feind werden.

Corona verändert unser Leben. Soziale Distanz ist das Gebot der Stunde. Die Menschen ziehen sich in ihre vier Wände zurück. Sie haben verstanden: Gemeinschaft ist gefährlich, sie kann sogar töten. Wo zwei oder drei versammelt sind, ist plötzlich die Angst mitten unter ihnen: beim Einkaufen, in der Straßenbahn, beim Tanken.

Da, wo die Menschen noch aufeinandertreffen, werfen sie sich argwöhnische Blicke zu: Verbreitet der Typ vor mir in der Schlange das Killer-Virus? Um Himmels willen, die hinter mir hat gehustet. Ich halte besser drei statt zwei Meter Abstand.

Der Nächste, mein Feind. Ein Gewalttäter, der mein Leben bedroht. Vermutlich dauert es nicht mehr lange, bis der Erste wegen fahrlässiger Körperverletzung vor Gericht angeklagt wird, weil er jemanden mit Corona angesteckt hat.

Der Mensch lernt ja schnell, auch die Regeln der sozialen Distanz. Und ehe wir uns versehen, wird aus Solidarität Misstrauen und aus Misstrauen Feindschaft. Je länger, desto mehr. Das ist nicht die Offenbarung der letzten Dinge, denn auch diesmal wird die Welt nicht untergehen.

Zumal es viele gibt, die den Verhältnissen trotzen und anderen Menschen nahekommen: Sie helfen in Krankenhäusern und Pflegeheimen, Supermärkten, Straßenbahnen und Nachbarschaftshilfen. Beruflich und aus freier Entscheidung, selbstlos und ehrenamtlich.

Wenn der Corona-Shutdown beendet ist, werden wir uns gerade an sie erinnern müssen, damit unsere Gesellschaft nicht langfristig beschädigt wird: durch Angst und Argwohn und noch mehr Selbstbezogenheit als zuvor.

Die Krise ist wie ein Brennglas: Sie zeigt, dass Mitmenschlichkeit die entscheidende Ressource unserer Gesellschaft ist, ohne die wir nicht leben können.

Michael Strauss