Das Krisenmanagement schickt uns in die Wüste der Vereinzelung. Die historische Erinnerung zeigt indessen, dass die Wüste nicht nur ein Ort lebensbedrohlicher Gefahren ist, sondern auch ein fruchtbarer Ort der Erkenntnis und Ausgangspunkt positiver gesellschaftlicher Impulse sein kann.

Das Corona-Virus greift nicht nur unsere Gesundheit an, es infiziert nicht nur unsere Wirtschaft, das Corona-Virus attackiert unser soziales Leben und damit die Identität unserer Gesellschaft. Mehr denn je ist diese von Kommunikation und Gemeinschaft, Interaktion und Austausch, offenen Grenzen und Internationalität geprägt. Die Corona-Krise zwingt uns zur Klausur und wirft uns auf uns selbst zurück.

Um Infektionsketten zu durchbrechen, schränken Regierungen das soziale Leben ein oder bringen es fast zum Erliegen: Öffentliche Einrichtungen werden geschlossen, Geschäfte und Restaurants müssen ihren Betrieb einstellen, und sogar Ausgangssperren werden verhängt. Bürgerliche Freiheiten werden massiv eingeschränkt, weil ein übergeordnetes Ziel das erforderlich macht: der Schutz von Leib und Leben. Unsere Gesellschaft erlebt eine staatliche Exekutive ungeahnten Ausmaßes.

Das Corona-Virus macht uns zu Anachoreten, Menschen, die sich aus der Gemeinschaft zurückziehen und zu Einsiedlern werden; eingeschlossen in den eigenen vier Wänden, zur Vereinzelung verdammt. Das ist mehr als verstörend, weil damit eine gesellschaftliche Kehrtwende um 180 Grad verbunden ist, die wir nicht für möglich gehalten haben und die eine Zumutung darstellt. Sie erinnert uns an spätantike Verhältnisse, als Menschen ebenfalls zu Eremiten wurden und ihr Heil in der Absonderung und Vereinzelung suchten.

Damals flohen sie allerdings vor dem römischen Staat, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, das Kaisertum zu sakralisieren und in seinen Strukturen zu stabilisieren. Nach dem Motto: Ein Reich, ein Kaiser, ein Glaube. Es war Diokletian, der im Zuge seiner Staatsreform ab dem Jahr 303 die letzte große Christenverfolgung vor der konstantinischen Wende in Gang setzte. Die frühe Kirche sollte endgültig zerschlagen werden. Und so verbot er den christlichen Gottesdienst, zerstörte Kirchengebäude, verbrannte christliche Schriften, inhaftierte christliche Staatsbeamte, verordnete ein Ämterverbot für Christen und folterte Bischöfe und Gemeindevorsteher.

In dieser Zeit zog es Menschen in die Wüste, wo sie ein der Welt abgewandtes und den Gefahren der Verfolgung entzogenes Leben suchten. In Askese und Gebet wollten sie Gott besonders nahe und den weltlichen Herrschern besonders fern sein; wie Antonius, der als Begründer des christlichen Mönchtums gilt.

Viele folgten seinem Beispiel und entwickelten bisweilen skurrile Formen des Eremitentums: wie etwa Symeon, der als „Säulenheiliger“ in die Geschichte einging, weil er sein Leben auf dem Kapitell einer Säule zubrachte. Andere lebten als Einsiedler auf einem Baum, und wieder andere ließen sich in Zellen einmauern, um durch ständiges Büßen und Beten ihr Leben dem Lob Gottes zu weihen. Lediglich durch eine schmale Öffnung wurden sie mit Nahrung versorgt.

Die Klausur als Existenzform steht in schroffem Gegensatz zum Selbstverständnis unserer fortgeschrittenen Moderne. Kein Wunder also, dass wir uns schwertun, die angeordnete Vereinzelung zu akzeptieren. Verstärkt durch die sozialen Medien ist unsere Gesellschaft von öffentlicher Teilhabe und Teilnahme geprägt.

Wir erleben einen Strukturwandel der Öffentlichkeit, der das Private verdrängt und als überkommene Vorstellung klassifiziert, wenn nicht gar diskreditiert. Öffentlich sein oder nicht sein, das ist heute die Frage. Das gilt auch für die Kirche, die angesichts der Krise ebenfalls ihre öffentliche Präsenz einschränkt und zum Beispiel Gottesdienste absagt.

Dabei trägt sie in sich die Tradition der Anachoreten, die durch persönlichen Rückzug und Kontemplation dazu beigetragen haben, dass es der römische Staat bis zum Schluss nicht vermocht hat, die Christen auszurotten. Mit Kaiser Konstantin wurde das Christentum im vierten Jahrhundert sogar zur staatsragenden Religion. Wie ambivalent man diese Entwicklung auch bewerten mag, der christliche Glaube entwickelte eine Kraft, die stärker war als Leid und Verderben. Er konnte Menschen mit Mut und Zuversicht ausstatten, die über einen vordergründigen Aktivismus und eine schale Selbstberuhigung hinausgingen. Er war eine Kraft, die aus der Wüste kam.

Natürlich leben wir heute in einer völlig anderen geschichtlichen Situation. Die Kirchen haben ihre gesellschaftsprägende Bedeutung weitgehend verloren. Doch das Christentum bewahrt die historische Erinnerung, dass die Wüste nicht nur ein Ort lebensbedrohlicher Gefahren ist, sondern auch ein fruchtbarer Ort der Erkenntnis und ein Ausgangspunkt für positive gesellschaftliche Impulse sein kann.

Michael Strauss