Unter Maßgabe der Gefahrenabwehr nehmen die Politiker drastische Eingriffe in die Demokratie vor. Im Kampf gegen das Corona-Virus schränken sie unsere Grundrechte ein. Das ist nur so weit und so lange wie unbedingt nötig legitim.

Die Politikerinnen und Politiker in Deutschland haben es derzeit so schwer wie selten zuvor in den vergangenen Jahrzehnten. Minister und Abgeordnete, Landräte und Bürgermeister müssen tiefgreifende, historische Entscheidungen treffen. Bei ihren öffentlichen Auftritten können wir förmlich erkennen, welche Last auf ihren Schultern liegt. Nicht nur in ihren Worten, auch in ihrer Gestik und Mimik spiegelt sich die Krise, die das Corona-Virus in unserem Land ausgelöst hat.

Die Politikerinnen und Politiker schränken nämlich in großem Ausmaß Grundrechte ein: das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und Freiheit der Person – eingeschränkt; das Recht auf Religionsfreiheit und ungestörte Religionsausübung – eingeschränkt; das Recht auf Versammlungsfreiheit – eingeschränkt; das Recht auf Freizügigkeit und Bewegungsfreiheit – eingeschränkt; das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung – eingeschränkt. Rechte, die ganz am Anfang unseres Grundgesetzes stehen und als Abwehrrechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat besonders hohe Bedeutung für unsere Demokratie haben.

Vor diesem Hintergrund haben sich die Politikerinnen und Politiker nicht nur für einen Shutdown des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens, sondern auch für einen zumindest teilweisen Shutdown unserer Demokratie entschieden. Zentrale demokratische Freiheitsrechte, die in unserer Verfassung verbrieft sind, wurden in den vergangenen Wochen Zug um Zug eingeschränkt. Das ist die historische Last, die in diesen Tagen auf den Schultern der Politikerinnen und Politiker liegt.

Legitimiert wird dieses Vorgehen durch das Infektionsschutzgesetz, das am 1. Januar 2001 in Kraft getreten ist und vor kurzem, am 27. März 2020, zum letzten Mal geändert wurde. Dessen Anwendung ermöglicht genau jene Einschränkungen von Grundrechten, die wir derzeit erleben. Es ermächtigt den Staat, übertragbare Krankheiten zu verhindern und zu bekämpfen und gehört damit zum Polizeirecht. Möglich sind darin auch Straf- und Bußgeldvorschriften, wie sie ebenfalls von den Bundesländern erlassen worden sind.

Eine weitere drastische Maßnahme, die sich nicht nur gegen Uneinsichtige wendet, sondern faktisch gegen alle Bürgerinnen und Bürger. Unter Maßgabe der Gefahrenabwehr gewinnt unsere freiheitliche Demokratie Züge eines Polizeistaates. Wer gegen die Vorschriften verstößt, kann mit einem Bußgeld bis zu 25.000 Euro oder sogar mit fünf Jahren Haft bestraft werden.

Umso verstörender wirken Erlaubnisse, die der Staat trotz der rigorosen Geltung des Infektionsschutzgesetzes ermöglicht. So dürfen zum Beispiel 40.000 Erntehelfer aus Osteuropa einreisen, um den deutschen Bauern bei der Spargelernte zu helfen. Außerdem können Blumen- und Baumärkte weiter öffnen, und Drogerie- und Lebensmittelmärkte entwickeln sich zu Fahrrad- und Spielwarenhändlern, während der Einzelhandel in die Pleite rutscht. Gleichzeitig bleibt es zum Beispiel den Kirchen verwehrt, ihre Gebäude für Gottesdienste zu öffnen und damit ihr Grundrecht auf Religionsfreiheit in Anspruch zu nehmen.

Wird so die Verhältnismäßigkeit gewahrt, deren Beachtung auch das Infektionsschutzgesetz von Politikerinnen und Politikern verlangt? Oder sind die Erlaubnisse vor allem auf den politischen Druck von Lobbygruppen zurückzuführen, denen sich die Politik nicht widersetzen mag, weil sie fürchtet, deren Unterstützung zu verlieren? Möglicherweise geht es aber einfach auch nur darum, den gesellschaftlichen Frieden zumindest notdürftig zu bewahren. Doch wäre letzteres überhaupt nötig?

Das ist zweifelhaft, denn bislang scheinen die Bürgerinnen und Bürger die Einschränkung ihrer Grundrechte recht klaglos hinzunehmen. Zu groß ist die Sorge, dass wir alle an Leib und Leben bedroht sind. Eine Sorge, die in den vergangenen Wochen stetig gewachsen ist – auch mit jedem Beitrag in den Medien über steigende Infektionszahlen und Tote in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Allein die Frequenz der Berichterstattung vermittelt das Bild einer Welt am Abgrund, auch wenn sich viele Medien um Sachlichkeit bemühen. Corona ist allgegenwärtig und dominiert unser gesamtes Denken, Handeln und Fühlen.

Umso wichtiger ist es, die Ruhe zu bewahren und jede Form von Hysterie zu vermeiden. Wenn es stimmt, dass Deutschland zu den Ländern gehört, die am besten auf eine Herausforderung wie das Corona-Virus vorbereitet sind (und wer wollte das bestreiten?), wird es eine Zeit nach der Pandemie geben. Darauf bereits jetzt zu setzen, heißt nicht, die Bedrohung zu verharmlosen. Es bedeutet lediglich, den Stellenwert unserer freiheitlichen Demokratie nicht aus den Augen zu verlieren.

Der Staat muss unser Leben schützen, aber er darf die demokratischen Grundrechte nicht stärker und länger einschränken als unbedingt nötig. Ihn daran zu erinnern, ist unsere Pflicht als Bürgerinnen und Bürger – im Namen der Demokratie.

Michael Strauss