Der Journalismus verliert durch seine digitale Beschleunigung die Fähigkeit, Orientierung zu bieten. Statt „Online first“ muss sein Leitmotiv deshalb lauten: die Fakten zuerst. Gerade im Katastrophenfall.
Es war einmal eine Zeit, als Zeitungen jüngstes Gegenwartsgeschehen in kürzester regelmäßiger Folge der breitesten Öffentlichkeit vermittelten. Tagesaktualität galt lange als kürzester Takt der medialen Berichterstattung. Dann machte der von der Periodizität des Tages unabhängige Rundfunk den Zeitungen ihr Kernkriterium streitig. Die Aktualität wurde fortan in Stunden gemessen, so dass die Zeitung von heute Nachrichten von gestern enthielt, die bereits alle kannten. Die Krise der gedruckten Information nahm ihren Anfang.
Das war im Vergleich zu heute allerdings eine noch geradezu gemütliche Phase der Mediengesellschaft. Denn mit dem Siegeszug des Internets hat sich die Kommunikation weiter beschleunigt bis hin zur allgegenwärtigen Gleichzeitigkeit. Jüngstes Gegenwartsgeschehen wird mittlerweile im Minuten-, wenn nicht sogar im Sekundentakt aktualisiert. An unseren Computer-, Tablet- und Smartphone-Bildschirmen erleben wir die aktuellen Ereignisse quasi in Echtzeit.
Dafür sorgen die klassischen Medien einerseits selbst durch ihre Online-Redaktionen. Andererseits haben die sozialen Medien wie Facebook und Twitter für eine erhöhte Rasanz gesorgt. Außerdem führt die Digitalisierung unserer Kommunikation zu einer fast unüberschaubaren Vielfalt von Kanälen, Sendern und Quellen. Sie alle kämpfen um unsere Aufmerksamkeit und wollen die ersten sein, die uns mit aktuellen Informationen versorgen.
So ist die mediale Kommunikation unserer Zeit von einem enormen Grundrauschen erfüllt. Besonders deutlich wird diese Entwicklung stets in Krisen und Katastrophen, wie den Terroranschlägen der jüngsten Zeit. Gerade dann versuchen die Medien, sich in ihrer Berichterstattung gegenseitig zu überbieten. So schnell wie möglich sollen Erkenntnisse der Öffentlichkeit präsentiert werden.
Das aber führt zu absurden Situationen. Denn wer ununterbrochen berichtet, ist schnell damit konfrontiert, dass er keine neuen, aktuellen Informationen erhält, die eine Berichterstattung rechtfertigen würden. So erleben wir einen Hamsterrad-Journalismus, der sich zunehmend selbst wiederholt oder davon gekennzeichnet ist, dass Reporter wortreich erklären, dass sie im Augenblick gar nichts Neues sagen können.
Da wirkt die Einbeziehung von Experten nahezu wohltuend. Auch sie wissen in der Regel nicht mehr als die Journalisten, aber sie haben die rhetorischen und fachlichen Fähigkeiten, das noch nicht Bekannte mit klugen Vermutungen und Randgedanken zu versehen. Damit sind sie Opfer ihrer medialen Einbettung. Mit der Folge, dass ihre Äußerungen häufig nicht mehr sind als leeres Gerede: „Bullshit“, wie es der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt auf den Punkt gebracht hat.
Gerechtfertigt wird die journalistische Dauerpräsenz mit der Annahme, dass man der Öffentlichkeit diese schuldig sei. Schließlich wolle diese so rasch wie möglich gerade über Katastrophen und ihre Bewältigung informiert werden. Und in der Tat ist das beschriebene Phänomen nicht nur eine Anfrage an das Handeln der Medienprofis, sondern an uns alle. Medienethik ist nicht nur ein Thema für die Medien selbst, sondern für die ganze Gesellschaft. Die Debatte muss hier wie dort geführt werden, wenn wir nicht der Normativität des Faktischen unterliegen wollen.
Die Medien, so hat es der kanadische Kommunikationswissenschaftler Marshall McLuhan einmal formuliert, seien Ausweitungen unserer Körperorgane und unseres Nervensystems. Dafür geschaffen, uns in der Welt zu beheimaten. Wenn das stimmt, und dafür spricht einiges, dann stehen wir heute stattdessen am Rand des Nervenzusammenbruchs und eines multiplen Organversagens.
Nachrichten wollen Informationen sein, nach denen wir uns richten können. Sie sollen der Orientierung dienen, damit wir in einer medial geprägten Welt heimisch sein und begründete Entscheidungen treffen können. Dafür aber müssen sie auf Fakten basieren und Teil einer sorgfältigen Recherche sein. Bei aller Nähe zu den Ereignissen brauchen Journalisten deswegen eine professionelle Distanz zu ihnen – zeitlich und persönlich. Sonst werden sie und wir mit ihnen Teil einer allgegenwärtigen Gleichzeitigkeit, die mehr vernebelt als erhellt.
Statt „Online first“ muss deshalb der oberste Grundsatz für Journalisten lauten: die Fakten zuerst. Sie sind die Grundlage nicht nur für einen verantwortungsvollen Journalismus, sondern für das Gelingen unseres gesellschaftlichen Miteinanders. Vielleicht sollten wir wieder stärker den Rat des spätantiken römischen Publizisten und Politikers Boethius beherzigen, um dem „Bullshit“ unserer Zeit zu widerstehen: „Hättest du geschwiegen, wärest du ein Philosoph geblieben.“
Michael Strauss