Die antidemokratische Entwicklung in der Türkei ist nicht nur eine Herausforderung für die Außenpolitik der Europäischen Union. Für Deutschland geht es auch um den Frieden im eigenen Land.
Deutschland bezieht seine heutige Stärke und Anziehungskraft aus einer intakten Demokratie und einem intakten Rechtsstaat. Menschen, die hier leben, können in der Regel darauf vertrauen, dass sie ihren eigenen Lebensentwurf in Frieden und Freiheit verwirklichen können. Und wenn es Konflikte gibt, entscheiden demokratisch legitimierte Gesetze und von der Regierung unabhängige Gerichte, wie sie zu lösen sind. Nicht zuletzt deswegen suchen viele Flüchtlinge gerade hierzulande Asyl und eine Perspektive für ihr Leben.
Deutschland hat, zumindest was die große Mehrheit der Bevölkerung angeht, seine Lektion aus den Irrwegen und Fehlentwicklungen vergangener Zeiten gelernt. Umso irritierter und besorgter schauen wir auf den Rückbau von Demokratie und Rechtsstaat in anderen europäischen Ländern um uns herum. Das gilt in jüngster Zeit insbesondere für die Türkei, erst recht nach dem gescheiterten Militärputsch dort vom 15. Juli 2016.
So sehr der Versuch zu verurteilen war, eine demokratisch gewählte Regierung abzusetzen, sind es doch genauso die Reaktionen der siegreichen Regierung auf den gescheiterten Umsturz. Denn Staatspräsident Erdogan nimmt das Ereignis zum Anlass, aus seiner Sicht verdächtige Personen aus öffentlichen Ämtern zu verbannen. Und zwar im großen Stil. Zehntausende von Richtern, Staatsanwälten, Lehrern, Polizisten und Soldaten sind suspendiert oder verhaftet worden.
Der Staatspräsident bezeichnet diese Maßnahmen selber als „Säuberung“ und belegt seine Gegner mit Begriffen, die an die Propagandasprache von Diktatoren erinnern. So drängt sich der Eindruck auf, dass der gescheiterte Putsch ein fast willkommener Anlass für eine regelrechte Gleichschaltung des türkischen Staates im Sinne Erdogans ist. Und die Bewegung seines Widersachers Gülen erhält die Rolle des Sündenbocks. Aus der Geschichte wissen wir, dass so eine Pogromstimmung erzeugt wird, die Andersdenkende der Gewalt der Straße überantwortet.
Anzeichen dafür hat es nicht nur in der Türkei gegeben, sondern auch in Deutschland. Die Entwicklung der Türkei ist deshalb nicht nur eine Frage der Europäischen Union und ihrer Außenpolitik. Der Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern Erdogans ist gerade für Deutschland ein nicht zu unterschätzendes innenpolitisches Problem. Immerhin leben hier rund vier Millionen Menschen, die entweder türkische Staatsbürger oder deutsche Staatsbürger mit türkischem Familienhintergrund sind. Auch letztere, etwa 2,7 Millionen, sind ihrem Ursprungsland häufig noch eng verbunden und nehmen persönlichen Anteil an der Entwicklung dort.
Deutschland ist vor diesem Hintergrund zweifach herausgefordert: Zum einen muss der türkische Staatspräsident unmissverständlich daran erinnert werden, dass der Abbau demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien gegen die europäischen Werte verstößt. Mehr denn je ist hier eine kompromisslose Linie gefordert. Bis hin zur Aussetzung der Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei und einer Überprüfung des Flüchtlingsabkommens.
Und zum anderen ist eine klare Ansprache an die in Deutschland lebenden Türkeistämmigen und türkischen Staatsbürger nötig, den aktuellen Konflikt ausschließlich mit friedlichen Mitteln auszutragen und jede Gewalt zu vermeiden. Die Freiheiten in Deutschland dürfen nicht für Ausschreitungen gegen Andersdenkende missbraucht werden. Wer andere Menschen angreift und sie an Leib und Leben beschädigt, ist kriminell und bricht deutsche Gesetze.
Politische Auseinandersetzungen in Deutschland unterliegen demokratischen Gepflogenheiten, die jeder zu beachten hat. Nicht zuletzt die islamischen Verbände könnten hier ihre Demokratiefähigkeit unter Beweis stellen und alle ihre Gläubigen auffordern, friedlich und mit Augenmaß die besorgniserregende Entwicklung in der Türkei zu begleiten.
Michael Strauss