Warum der Westen vor dem Scherbenhaufen einer verfehlten Nahost-Politik steht.
Der „Islamische Staat“ ist zu einer Bedrohung geworden, die über sein Kerngebiet in Syrien und Irak hinausreicht. Durch terroristische Anschläge verbreitet er zunehmend Angst und Schrecken – in islamisch geprägten Ländern wie Libanon, Ägypten und Tunesien, aber auch mitten in Europa. Das Attentat in Paris am 13. November war ein grausamer Höhepunkt dieser Entwicklung. Schon vorher gab es Anschläge in seinem Namen, auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 oder einen russischen Ferienflieger am 31. Oktober.
Und es sieht nicht so aus, als würde sich die Bedrohung in nächster Zeit verringern. Vor allem die militärisch ausgebildeten und durch den Krieg verrohten Rückkehrer aus Syrien stellen eine ernste Gefahr für die Sicherheit dar. Junge Männer vor allem, die fanatisiert für einen Gott des Gemetzels in den Krieg ziehen. Sie verachten die Werte des Westens und folgen einem religiösen Totalitarismus, der mit dem Islam nicht zu rechtfertigen ist. Dass sie geläutert aus dem Krieg zurückkehren, ist nicht mehr als eine vage Hoffnung.
Die Gotteskrieger sind selber Opfer: Sie leiden an mangelnder Bildung ebenso wie an mangelndem Selbstbewusstsein, an mangelnden wirtschaftlichen Perspektiven ebenso wie an mangelnder sozialer Unterstützung. Und vor allem sind sie die Opfer einer menschenverachtenden Indoktrination. Sie töten und sterben nicht für Allah, sondern für die weltlichen Interessen zynischer Hassprediger und Machthaber. Sie gehören nicht einem verfeindeten, fremden Staat an, sondern sind Deutsche und Franzosen, Engländer und Belgier.
Die jüngsten Terroranschläge von Paris haben Frankreich ins Herz getroffen, wie die Angriffe vom 11. September 2001 die USA. In der Folge zogen die USA in den Krieg gegen den Irak. Sie bezichtigten den irakischen Diktator Saddam Hussein der Zusammenarbeit mit dem Terrornetzwerk Al-Qaida und warfen ihm den Besitz von Massenvernichtungswaffen vor. Was sich allerdings als falsch erwies. Am 1. Mai 2003 erklärte US-Präsident George Bush den Krieg für siegreich beendet.
Es war ein Krieg, der zwar zum Sturz und zur Exekution von Saddam Hussein führte, vor allem aber ein von Gewalt und gesellschaftlichen Konflikten verwüstetes Land zurückließ. Ein Land, das zur Brutstätte des „Islamischen Staates“ wurde. Welche Ziele die USA und ihre Verbündeten mit dem Irakkrieg auch verbunden haben, eine wirkliche und dauerhafte Befriedung des Landes haben sie nicht erreicht. Im Gegenteil, seitdem ist der gesamte Nahe Osten instabiler als zuvor.
Viele Muslime haben die Militäraktion als moderne Fortsetzung der mittelalterlichen Kreuzzüge verstanden, die in ihrem kollektiven Gedächtnis ein bis heute kaum bewältigtes Trauma darstellen. Sie bieten eine willkommene Projektionsfläche für die Propaganda des „Islamischen Staates“, der seine Anziehungskraft ja gerade aus der Vorstellung des Dschihad bezieht, des heiligen und gerechten Krieges gegen die Feinde Allahs und seines Propheten.
Nun also schmiedet Frankreich eine Koalition gegen den „Islamischen Staat“. Mit militärischen Mitteln soll er bezwungen werden. Aber wie das gehen kann, weiß niemand. Auf keinen Fall allein durch Luftangriffe. So emotional verständlich die Initiative des französischen Präsidenten Hollande auch sein mag, eine Strategie ist kaum erkennbar. Erst recht keine gemeinsame Strategie aller, die gegen den „Islamischen Staat“ zu Felde ziehen.
So dürfte eine stärkeres militärisches Vorgehen nicht mehr sein als eine geballte Demonstration der Stärke. Vielleicht ist das nötig angesichts einer neuen Macht, die anscheinend nur die Sprache der Gewalt kennt. Vielleicht muss ihr unmissverständlich vor Augen geführt werden, dass sich die Weltgemeinschaft dem islamistischen Terror entschieden entgegenstellt. Ein Schutz vor Anschlägen in Europa und anderswo ist damit aber kaum verbunden. Vielleicht werden sie durch die neue Militäroffensive sogar provoziert.
Der Westen steht heute vor dem Scherbenhaufen einer verfehlten Innen- und Außenpolitik: In den eigenen Ländern hat er zu wenig für die Integration muslimischer Migranten getan. Und mit Blick auf den Nahen Osten ist er immer wieder der Logik der Gewalt gefolgt. Jetzt könnte eine Situation eingetreten sein, in der es aus dieser Logik kein Entrinnen mehr gibt. Das wäre tragisch. Denn eigentlich braucht die Region nicht noch mehr Gewalt, sondern ein politisches Konzept, das mit diplomatischen Mitteln zum Miteinander der Menschen, Völker und Staaten führt.
Ein solches Konzept müssen wir vermutlich als Vision bezeichnen, denn damit es entsteht, braucht es weitsichtige Politiker und auf allen Seiten Menschen mit dem Willen zum Frieden. Ohne sie gleitet die Welt immer weiter ab in den vielbeschworenen Kampf der Kulturen, den doch niemand will.
Michael Strauss