Die Flüchtlingskrise ist ein Kampf um die Humanität – und um Europa.

Die aktuelle Flüchtlingskrise ist nicht nur eine humanitäre Herausforderung. Sie entwickelt sich zu einer Bewährungsprobe für Europa. Und es scheint alles andere als ausgemacht, dass Europa diese Bewährungsprobe besteht. Mögen Politikerinnen und Politiker Europa auch als starke und handlungsfähige Gemeinschaft beschwören. Nie haben solche Beschwörungen fader und fadenscheiniger geklungen als in diesen Tagen.

Selten war der Umgangston zwischen den europäischen Staatenlenkern rauher als heute, wo es um die Frage geht, welche Bedeutung die europäischen Werte für den Schutz von Menschen vor Krieg und Gewalt haben. Zu diesen Werten gehört die Solidarität zwischen den Völkern Europas, wie sie die Flagge der Europäischen Union symbolisiert. Ein Kranz von zwölf goldenen Sternen auf azurblauem Hintergrund: ein Zeichen für die Einheit. Davon aber ist Europa so weit entfernt wie lange nicht.

Fast könnte man den zynischen Eindruck gewinnen, dass Europa zwar in der Lage ist, Banken und ganze Volkswirtschaften vor dem Kollaps zu bewahren, aber nicht bereit ist, in einer gemeinsamen Kraftanstrengung Flüchtlinge vor dem Verderben zu retten. Die Missachtung europäischer Werte durch Mitgliedstaaten der Europäischen Union stärkt jedenfalls nicht die Hoffnung, Europa könnte mehr sein als eine kalte Wirtschaftsunion, die nur dem Eigennutz verpflichtet ist.

Auf dem politischen Feld erleben wir derzeit eine Renationalisierung insbesondere in den osteuropäischen Mitgliedstaaten der EU, die viele im Westen mit Grausen beobachten. Immer unverhohlener scheinen dort Politikerinnen und Politiker zusammen mit einer großen Zahl von Bürgerinnen und Bürgern einen neuen Nationalstolz zu pflegen, der sich lieber gegen andere abgrenzt als Grenzen abbaut.

Dieser Nationalstolz führt zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus und entspringt wohl nicht zuletzt einem Argwohn gegenüber demokratischen Grundrechten: der Presse- und Meinungsfreiheit zum Beispiel, aber auch dem Recht auf Gleichberechtigung von Mann und Frau oder der sexuellen Selbstbestimmung. Rechte, die in Europa eigentlich zum demokratischen Selbstverständnis gehören.

In Deutschland jedenfalls sind wir vor allem stolz auf das Grundgesetz, das jedem übersteigerten Nationalstolz entgegensteht. Es schützt die Würde aller Menschen, nicht nur der Deutschen, und zieht damit die Konsequenzen aus dem Irrweg des Nationalsozialismus. Nicht die Zugehörigkeit zum deutschen Volk ist für das Grundgesetz maßgebend, sondern die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“.

Mit diesem weltanschaulichen Vorbehalt steht das Grundgesetz allen nationalistischen Bestrebungen entgegen. Die Gottesklausel ist der Garant für ein humanes, demokratisches und von Freiheitsrechten geprägtes Miteinander, gerade weil sie eine Vorrangstellung des Volkes ablehnt. Ein Erbe der christlichen Kultur des Abendlandes, das auch Pegida-Anhänger anscheinend noch entdecken müssen.

Trotz lautstarker und schriller Parolen finden die Ideologen des neuen Nationalstolzes in Deutschland vergleichsweise wenige Anhänger. Viele Bürgerinnen und Bürger wissen, dass der nationale Weg kein Weg in die Zukunft, sondern ein Weg zurück in die Konfrontationen vergangener Zeiten ist. Auch deswegen unterstützen sie in der Flüchtlingskrise immer noch mehrheitlich den Kurs der Bundeskanzlerin; unabhängig davon, welcher politischen Partei sie zuneigen.

In der Hilfe für Flüchtlinge ist Angela Merkel so klar und standfest wie nie. Vielleicht weil sie weiß, dass diese Hilfe auch eine Schicksalsfrage für Europa ist – weit mehr als die Rettung der Finanzmärkte. Denn scheitert Europa in der Flüchtlingshilfe, ist die Europäische Union als politische Wertegemeinschaft gescheitert – mit weitreichenden, unabsehbaren Folgen. Wünschen wir den Flüchtlingshelfern Glück, um der Flüchtlinge, aber auch um Europas willen.

Michael Strauss