Die Fälle sexualisierter Gewalt haben die römisch-katholische Kirche in eine tiefe Krise geführt. Denn die Gründe dafür sind auch in ihren Strukturen zu suchen. Die aber sind eng mit dem theologischen Selbstverständnis verbunden. Das macht die Krise zu einer Grenzerfahrung: Wie kann eine Kirche, die sich als heilig versteht, sündig sein?

Die römisch-katholische Kirche ist ein Mysterium. Sie ist schwer zu verstehen. Ihr Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen ist ein aktuelles Beispiel dafür. Er provoziert nicht nur die Frage: Wie konnte das geschehen? Sondern auch: Warum tut sich die Kirche mit der Aufklärung so schwer?

Die Studie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (Mannheim) bietet dazu wichtige Einsichten. Sie spricht von kirchlichen Strukturen, die sexualisierte Gewalt begünstigen; etwa die hierarchische Organisation oder der Zölibat. Außerdem scheine die katholische Kirche anziehend für Personen mit pädophilen Präferenzstörungen sowie einer gestörten sexuellen Identitätsbildung zu sein. 3677 betroffene Kinder und Jugendliche und 1670 beschuldigte Kleriker führt die Studie auf. Die Dunkelziffern dürften um ein Vielfaches größer sein.

Die Ergebnisse legen nahe, dass die römisch-katholische Kirche nicht nur ein Problem mit einzelnen Amtsträgern hat, den sogenannten Geistlichen, sondern mit ihrer Organisationsgestalt. Deswegen erschallt – wieder einmal – der Ruf nach grundlegenden Reformen: Abschaffung des Zölibats, Zulassung von Frauen zum Priesteramt, mehr innerkirchliche Demokratie und Transparenz.

Neu ist das alles nicht, genauso wenig wie das öffentlich bekundete Verständnis von Bischöfen für den Unmut im Kirchenvolk, dass solche Reformen bisher unterblieben sind. Was allerdings nicht verwundern muss, ist die römisch-katholische Kirche doch keine Organisation wie andere, noch nicht einmal wie andere Kirchen. Sie ist ein Mysterium. Und zwar im theologischen Sinn des Wortes.

Es ist dieser Sachverhalt, der grundlegende Reformen so schwierig macht und vielleicht sogar kaum möglich erscheinen lässt: Denn die Strukturen der römisch-katholischen Kirche sind eng verknüpft mit ihrem dogmatischen Selbstverständnis. Sie unterliegen nicht nur – wie in x-beliebigen Organisationen – profanen Regelungs- und Steuerungsmechanismen, sondern berühren das Kirchenbild.

Es ist verwurzelt in einer Gedankenwelt, die weit zurückreicht in die 2000-jährige Kirchengeschichte und dem aufgeklärten Menschen unserer Tage fremd und esoterisch vorkommen kann. Vermutlich dürften selbst viele Katholiken um Verständnis ringen, wenn sie sich die dogmatischen Grundlagen ihrer Kirche vor Augen halten.

Nach römisch-katholischer Lehre hat die Kirche sakramentalen Charakter. Sie kann sogar selber als Sakrament bezeichnet werden, weil sie die heilsgültigen Sakramente verwaltet: nach katholischer Zählung Taufe, Firmung, Eucharistie, Buße, Krankensalbung, Priesterweihe und Ehe. So steht im Katechismus der Katholischen Kirche: „Die Kirche enthält und vermittelt also die unsichtbare Gnade, die sie bezeichnet. In diesem analogen Sinn wird sie ‚Sakrament’ genannt.“

Die Kirche, so heißt es dort weiter, sei in Christus gleichsam das Sakrament, Zeichen und Werkzeug für die „innigste Vereinigung mit Gott“. Ja, die Kirche sei mit Christus eins. Wie es Augustinus im 4. Jahrhundert nach Christus formulierte: „Denn wenn jener das Haupt ist, wir die Glieder, dann ist der ganze Mensch er und wir.“ Papst Gregor fasste diesen Gedanken im 6. Jahrhundert nach Christus pointiert zusammen: „Unser Erlöser erweist sich als eine Person mit der heiligen Kirche, die er sich zu eigen gemacht hat.“ Und Thomas von Aquin schrieb im 13. Jahrhundert: „Haupt und Glieder sind gleichsam eine mystische Person.“

Diese engste denkbare Verbindung von Christus und Kirche resultiert nach katholischem Verständnis nicht zuletzt aus der Überzeugung, dass Christus selbst die Kirche gestiftet hat und diese nicht erst eine nachösterliche Versammlung von Glaubenden ist.

So formulierte das Zweite Vatikanische Konzil 1964 in der Dogmatischen Konstitution „Lumen gentium“ (Licht der Völker): „Der Anfang und das Wachstum der Kirche werden zeichenhaft angedeutet durch Blut und Wasser, die aus der geöffneten Seite des gekreuzigten Christus heraustreten.“ Und in der Konstitution über die heilige Liturgie stellte ebenfalls das Zweite Vatikanische Konzil fest: „Denn aus der Seite des am Kreuz entschlafenen Christus ist das wunderbare Sakrament der ganzen Kirche hervorgegangen.“

Unverbrüchliche Kontinuität dieser mystischen Einheit von Christus und Kirche bietet das geweihte Amt: Diakone, Priester und Bischöfe, die in der apostolischen Nachfolge des Petrus eine herausgehobene geistliche Würde geltend machen. Nur dieses Amt gewährleistet nach katholischem Verständnis, dass in den Sakramenten wirklich Christus durch den Heiligen Geist für die Kirche am Werk ist.

Deshalb gilt dogmatisch bis heute, was Cyprian von Karthago im 3. Jahrhundert nach Christus formulierte und was das Konzil von Florenz im 15. Jahrhundert als Dogma festgeschrieben hat: „extra ecclesiam nulla salus est“. Außerhalb der römisch-katholischen Kirche ist kein Heil. Nur sie ist das universale Heilssakrament. Und der geweihte Priester ist ihr Gewährsmann dafür in der Welt.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und in wie weit die Kirche überhaupt sündig sein kann, wenn sie doch mit dem sündlosen Christus eins ist. Hier spricht die Konstitution „Lumen gentium“ von einer „komplexen Wirklichkeit“, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwachse.

So kann der Katechismus behaupten, der Kirche gehörten zwar auch Sünder an, doch sei sie die Sündlose, die aus Sündern besteht: „In den Heiligen erstrahlt ihre Heiligkeit, in Maria ist sie schon vollkommen heilig.“ In der „seligsten Jungfrau Maria“, so auch „Lumen gentium“, sei die Kirche schon zur Vollkommenheit gelangt. Maria erscheint als mystische Vergegenwärtigung der sündlosen Kirche.

Angesichts dieser Mischung aus theologischer Dialektik und mystischer Überschreitung aufgeklärter Vernunft wird deutlich, warum sich die römisch-katholische Kirche mit einer kritischen Sicht, gar mit einer Infragestellung ihrer institutionellen Grundlagen schwer tut. Ihre sakramentale Identifikation mit Christus birgt die Gefahr, einen amtskirchlichen Eigensinn zu fördern, der sich den Maßstäben dieser Welt verschließt. Auch wenn diese den Menschen besser dienen, als die Regeln der Kirche.

Das macht die Krise zu einer Grenzerfahrung: Eine Kirche, die aus dogmatischen Gründen Probleme hat, Sünde auch als strukturelle Gottesferne der eigenen Institution zu erkennen und nicht nur als persönliches Fehlverhalten einzelner Amtsträger, kann dem Vorwurf der Selbstgerechtigkeit kaum entgehen. Selbstgerechtigkeit aber schafft keine Glaubwürdigkeit. Sie verstärkt den Akzeptanzverlust – und behindert eine umfassende Aufklärung der Fälle sexualisierter Gewalt.

Michael Strauss