Wer den Nahostkonflikt verstehen will, muss versuchen, eine Region zu erkunden, die sich dem politischen Pragmatismus westeuropäischer Prägung weitgehend entzieht. Das kann an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten führen.

Das Heilige Land ist ein aufgewühltes Stück Erde – getränkt mit Blut und Tränen, gezeichnet von Gewalt und Zerstörung, geschunden von Hass und religiösem Eifer. Und das nicht erst seit 1948, der Gründung des Staates Israel, sondern seit mehr als 3000 Jahren. Wer in Jerusalem steht – da, wo die heiligen Stätten von Judentum, Islam und Christentum auf das Engste benachbart sind –, kann bis heute die Gegenwart dieser Geschichte geradezu fühlen. Er wird an den 90. Psalm erinnert, wo es heißt: „Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist.“ In Jerusalem herrscht „Gotteszeit“; wie an keinem anderen Ort der Welt verdichtet sich hier die Vergangenheit zu einer geradezu unheimlichen Aktualität.

Wer gedacht hat, die Kreuzzüge seien tausend Jahre entfernt und lediglich das Kapitel in einem Schulbuch, wird hier eines Besseren belehrt. Und wer meint, die Zerstörung des Tempels im Jahr 70 nach Christus durch die Römer spiele heute keine Rolle mehr, irrt genauso wie derjenige, der den Auszug der Israeliten aus Ägypten im 13. Jahrhundert vor Christus lediglich als religiösen Mythos versteht. Er verkennt, welchen Einfluss religiöse Vorstellungen und historische Ereignisse auf die Politik im Heiligen Land bis heute haben.

Diese handgreifliche historische Gegenwart und religiöse Prägekraft ist für pragmatische Westeuropäer, die in religionsneutralen Staaten und einer weitgehend säkularen Gesellschaft leben, verstörend. Sie müssen feststellen, dass ihre Maßstäbe der politischen Analyse dem Heiligen Land kaum gerecht werden. Warum, so fragt man sich, können sich die politischen Vertreter Israels und der palästinensischen Gebiete nicht an einen Tisch setzen und endlich ein friedliches Zusammenleben in zwei Staaten organisieren? Das müsste doch allemal besser sein, als immerfort Menschen zu töten und zu unterdrücken.

Vermutlich braucht es lange und auf jeden Fall eine intensive Auseinandersetzung mit den besonderen Gegebenheiten, bis man zumindest eine Ahnung von der Komplexität des Nahost-Konfliktes erhält. Was man allerdings verhältnismäßig schnell begreift, ist, dass es in Israel und Palästina stets um das große Ganze geht: die staatliche und persönliche Existenz, das Heil des Volkes und die Erfüllung eines heiligen Auftrags. Wer aber in heilsgeschichtlichen Kategorien denkt, dem fallen pragmatische politische Kompromisse bekanntlich schwer.

Diese Erfahrung ist auch dem christlichen Abendland nicht fremd. Lange, bis zum 17. Jahrhundert hat es gedauert, bis die christlichen Fürsten- und Königtümer begannen, religiöse Toleranz als Prinzip der praktischen Politik anzuerkennen. Weniger unterstützt durch die Kirchen, sondern vor allem unter dem Einfluss der Aufklärung und einer humanistischen Philosophie. Auch das (ehemals) imperiale Selbstverständnis von Kirchen lässt sich im Heiligen Land noch besonders eindrücklich studieren.

Selbst den Pilgern, die sich lediglich in frommer Selbstversenkung auf die vermeintlich historischen Spuren des Jesus von Nazareth begeben, legt es sich nahe. Sie erleben, wie die unterschiedlichen Konfessionen eifersüchtig über die heiligen Stätten wachen. So konkurrieren zum Beispiel in der Grabeskirche sechs Kirchen miteinander: die Griechisch-Orthodoxe Kirche, die Römisch-Katholische Kirche, die Armenische Apostolische Kirche, die Syrisch-Orthodoxe Kirche, die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche sowie die Kopten. Weil sie aber alle miteinander im Streit liegen, verwaltet die moslemische Familie Joudeh seit Jahrhunderten die Schlüssel der Grabeskirche.

An Selbstbewusstsein mangelt es keiner der Konfessionen im Heiligen Land. Besonders ausgeprägt scheint es aber bei den Orthodoxen zu sein, die sich als Kirchen des alten byzantinischen Reiches direkt auf apostolische Wurzeln zurückführen, wie etwa die armenische Kirche. Ihrer Überzeugung nach haben die Apostel Judas Thaddäus und Bartholomäus in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts in Armenien gepredigt und dort christliche Gemeinden gegründet. Bereits im Jahr 301 wurde das Christentum in Armenien zur Staatsreligion erklärt.

Vor diesem Hintergrund hat es selbst die lateinische (römisch-katholische) Kirche schwer, historisches Gewicht zu beanspruchen, beginnt ihr Einfluss im Heiligen Land doch erst mit den Kreuzzügen im 12. Jahrhundert. Ganz zu schweigen von den Protestanten, die zwar mit der von Kaiser Wilhelm II. 1898 eingeweihten Erlöserkirche im Herzen Jerusalems ein Domizil besitzen, aber religionspolitisch im Heiligen Land ein Nischenphänomen darstellen.

Wer im Heiligen Land nach religiös imprägnierter Machtpolitik sucht, findet sie auch im christlichen Spektrum. Auch hier werden Mauern errichtet, dient die Religion häufig eher der Abgrenzung und der Durchsetzung eigener Interessen als dem Dialog und der Verständigung mit anderen Kirchen oder gar Religionen. Eine Lage, die in ökumenischer Hinsicht meilenweit von dem entfernt ist, was wir in Deutschland als normal erachten und die uns vor Augen führt, welch eine begrenzte Perspektive von Ökumene hierzulande vorherrscht.

Ganz und gar bedrückend aber sind die Mauern aus Stein und Beton: Wer von Jerusalem in das etwa 15 Kilometer entfernte Bethlehem fahren möchte, steht bald vor einer riesigen militärischen Sperranlage. Wie ein großes Gefängnis ist das vor allem von Palästinensern bewohnte Westjordanland seit ein paar Jahren nahezu hermetisch abgeriegelt. Die Durchfahrt ist mit teilweise intensiven Kontrollen verbunden und erinnert an die Grenzkontrollen zur ehemaligen DDR.

Israel will damit das Einsickern von Terroristen und Selbstmordattentätern verhindern, hat mit der Mauer aber auch ein menschenverachtendes Symbol geschaffen. Es dokumentiert den Stillstand im Friedensprozess mit den Palästinensern und schürt die gegenseitige Feindschaft. Vielfach verstärkt wird der Konflikt durch die Siedlungspolitik: Immer wieder hat Israel in den vergangenen Jahren palästinensischen Grund und Boden konfisziert, um neue Häuser für jüdische Zuwanderer, teilweise ganze Städte zu bauen.

So liegen in den palästinensischen Gebieten mittlerweile mehr als hundert jüdische Siedlungen wie Inseln, verbunden durch ein skurriles Netz von Straßen, auf denen teilweise nur Israelis oder nur Palästinenser fahren dürfen. Mit der Folge, dass eine Zwei-Staaten-Lösung immer schwerer zu realisieren ist: Israel müsste entweder konfisziertes Land kompensieren oder ganze Orte wieder abreißen.

Land bedeutet in dem kleinen Küstenstreifen zwischen östlichem Mittelmeer und Jordantal wie kaum sonst irgendwo Leben – für die Palästinenser, die sich vertrieben und unterdrückt fühlen, wie für Israel, das hier seine biblisch verheißene Heimat verortet. Und während die Palästinenser trotz aller Rückschläge mit bewundernswertem Einsatz an ihrer Staatswerdung arbeiten, kämpft Israel unvermindert mit dem Trauma der Shoa. Sie ist der moderne Gründungsmythos des Staates Israel, dem alle Politik verpflichtet ist. Ein Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem führt das jedem Besucher unmissverständlich vor Augen. Nie mehr, so die Botschaft, sollen Juden verfolgt und vertrieben werden und in ihrer Existenz gefährdet sein.

Diese Dimension macht es Deutschen zusätzlich schwer, die Lage im Heiligen Land angemessen zu beurteilen. Jede Äußerung muss stets der historischen Verantwortung für den Holocaust eingedenk bleiben. Eine Zuflucht bietet da vielleicht der 122. Psalm. Dort heißt es: „Wünschet Jerusalem Glück! Es möge wohlgehen denen, die dich lieben! Es möge Frieden sein in deinen Mauern … Um des Hauses des Herrn willen, unseres Gottes, will ich dein Bestes suchen.“

Michael Strauss