Warum Weihnachten die Welt verändert und kein volkstümliches Rührstück ist.

Weihnachten ist ein apokalyptisches Datum, denn Weihnachten offenbart das Ende der Zeit. Das klingt verstörend. Und – das ist es auch. Diese Erkenntnis hat so gar nichts mit dem volkstümlichen Rührstück gemein, das wir Jahr für Jahr im Lukasevangelium lesen: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde …“

Dieselbe Weihnachtsgeschichte lässt sich, aller folkloristischen Ausmalungen entkleidet, von ihrer theologischen Mitte her formulieren. So, wie es Paulus in seinem Brief an die Gemeinden in Galatien in Kleinasien, der heutigen Türkei, getan hat. Dann hört sie sich wie folgt an: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen.“ (Gal 4,4)

Paulus spricht von der Geburt eines Kindes zu einer bestimmten historischen Zeit. Er markiert ein besonderes Datum in der Chronologie der Jahre. Und er sagt: An diesem Datum hat sich die Zeit erfüllt, und zwar deswegen, weil Gott selbst zur Welt gekommen und Teil der Menschheitsgeschichte geworden ist.

Weihnachten ist ein apokalyptisches Datum, weil mit der Geburt Jesu ein neues Zeitalter heraufgezogen ist. Die Bezeichnung „n. Chr.“ kennzeichnet keine schlichte chronologische Fortsetzung der Erdenzeit. Mit dem Advent Jesu ist das Reich Gottes auf der Erde angebrochen. Denn Weihnachten ist mit dem zweiten Weihnachtsfeiertag keineswegs zu Ende. Weihnachten dauert an. 2015 n. Chr. heißt, 2015 Jahre im Horizont einer neuen Zeit: der Gotteszeit.

Folgen wir dem paulinischen Verständnis von Weihnachten, beginnt mit Jesu Geburt eine Zeit der Erlösung. Sie ist davon geprägt, dass die Menschen Kinder Gottes werden. Zwei Begriffe, die eigentlich gar nicht so recht zueinander passen wollen: „Erlösung“, ein theologischer Zentralbegriff, und „Kinder“, ein ganz menschlicher, dem alltäglichen Leben verbundener Begriff, der aber, auf erwachsene Menschen angewendet, durchaus irritiert. Mit dem Gedanken der Erlösung entreißt Paulus Weihnachten jeder bürgerlichen Gemütlichkeit.

Denn die Erlösung macht uns zu Kindern. Das ist einerseits eine schöne Vorstellung, ist die Kindheit aus der Perspektive von Erwachsenen doch oft eine romantische Utopie. Andererseits verbirgt sich darin auch eine Zumutung, denn das Bild markiert einen irritierenden Vorbehalt gegenüber der Vernunft der Erwachsenen, ihren Normen und Ordnungen, ihrer Klugheit und Weisheit, ihren geistigen und materiellen Errungenschaften.

Wenn seit Jesu Geburt eine neue Zeitrechnung begonnen hat, haben die Gesetzmäßigkeiten der alten Welt nicht mehr das letzte Wort. Dann gibt es eine Gegenwelt, die sich zwar noch nicht durchgesetzt hat, deren Widerschein aber bereits hier und heute sichtbar wird. Merkmale dieser Gegenwelt sind: Glaube, Liebe, Hoffnung, Friedfertigkeit, Gerechtigkeit, Humanität, Mut, Demut, Aufrichtigkeit. Man kann kaum behaupten, die Geschichte des Christentums wäre stets davon geprägt gewesen.

Und doch gab es immer wieder Menschen, die dem Außerordentlichen und Ungewöhnlichen des christlichen Glaubens Gestalt verliehen haben. Der neue Mensch des Christentums pocht, wie der reformierte Theologe Walter Nigg einmal formulierte, „als Narr an die Tore dieser Welt“ – weil er daran glaubt, dass die Welt trotz Terror und Tod eine Perspektive hat. In diesem Sinne: Frohe Weihnachten und ein gesegnetes neues Jahr.

Michael Strauss