Corona ist eine gesellschaftliche Katastrophe. Die Pandemie verursacht Leid nicht nur für die Erkrankten, sondern für Millionen von Menschen, deren Leben Schaden nimmt. Es wäre viel gewonnen, wenn wir die Kraft fänden, dieser Erkenntnis standzuhalten.

Corona ist nicht nur eine Herausforderung für unser Gesundheitssystem und ein Desaster für die Wirtschaft. Corona ist eine gesellschaftliche Katastrophe. Denn die staatlich verordneten Einschränkungen unserer Freiheit widerstreben dem Selbstverständnis einer liberalen Demokratie. Ein Selbstverständnis, das über viele Jahrzehnte gewachsen ist und geradezu erkämpft wurde in der Auseinandersetzung mit freiheitsfeindlichen Ideologien und dem autoritären Denken vergangener Zeiten.

Bereits die Tatsache, dass die Grundrechte gleich am Anfang des Grundgesetzes stehen, ist eine Reaktion auf die Verneinung individueller Freiheit im „Dritten Reich“. Nach Artikel 1 Absatz 3 binden die Grundrechte alle staatlichen Gewalten als „unmittelbar geltendes Recht“. Sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Deswegen ist der Staat gehalten, jede Einschränkung von Grundrechten auf ihre Verhältnismäßigkeit zu prüfen.

Die Diskussion um die Coronamaßnahmen ist vor diesem Hintergrund berechtigt und nicht Ausdruck mangelnder Einsicht in die Bedrohungslage. Die Einschränkung individueller Freiheit ist keine Kleinigkeit und darf zu Recht beklagt werden, ohne dass der Klagende zu den Querdenkern, Verschwörungstheoretikern und Corona-Leugnern gezählt wird.

Denn Corona beschädigt und zerstört nicht nur das Leben von Erkrankten, sondern als Folge der Einschränkungen auch das Leben vieler Anderer. Wer will das Leid der Einen gegen das Leid der Anderen aufrechnen?

Was ist mit denen, die vor den Trümmern ihrer wirtschaftlichen Existenz stehen und sich verzweifelt fragen, wie sie ihre Schulden begleichen sollen? Was ist mit denen, die an ihrer Einsamkeit verzweifeln und depressiv und lebensmüde werden? Was ist mit den Kindern in schwierigen sozialen Verhältnissen, die ihre Chancen auf ein besseres Leben einbüßen? Ganz zu schweigen von den Menschen in anderen Ländern der Erde, die nicht in den Genuss staatlicher Transferleistungen gelangen.

Bei einem Lockdown geht es nicht in erster Linie darum, dass Wohlstandsbürger für ein paar Wochen auf liebgewonnene Lebensgewohnheiten verzichten. Ein Lockdown verursacht für viele Menschen ernstzunehmende Schäden, die nachhaltig und tief in ihr Leben eingreifen.

Gleichwohl kann der demokratische Staat Grundrechte zumindest zeitweise und soweit es erforderlich ist einschränken. Die Menschen vor Krankheit und Tod zu schützen, gehört dazu. In Artikel 2 postuliert das Grundgesetz das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

Diese Aufgabe entbindet den Staat aber nicht von seiner Aufgabe, alle anderen Grundrechte so weit wie möglich ebenfalls zu wahren: das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht auf Religionsfreiheit und ungestörte Religionsausübung, das Recht auf Versammlungsfreiheit, das Recht auf Freizügigkeit und Bewegungsfreiheit, das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung.

Deswegen überprüfen immer wieder auch Gerichte das staatliche Handeln. Diese Prüfung ist demokratiespezifisch und muss ausgehalten werden; auch, weil sie den demokratiefeindlichen Kritikern der Coronamaßnahmen nicht das Feld überlässt.

Das Grundgesetz hat die Basis geschaffen, dass Bürgerinnen und Bürger ein selbstbestimmtes und vor staatlicher Normierung geschütztes Leben führen können. So ist Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten durch zahlreiche Emanzipations- und Transformationsprozesse das vielgestaltige, offene und tolerante Land geworden, dass wir – und mit uns viele Menschen weltweit – so schätzen.

Die Freiheit und damit die Pluralität von Lebensformen sind zum Inbegriff unserer gesellschaftlichen Verfassung geworden. Deshalb verabscheuen die meisten heute Institutionen, die autoritär auftreten und uns vorschreiben wollen, wie wir zu leben haben. Insbesondere dann, wenn wir ihr Handeln nicht ausreichend begründet finden und nachvollziehen können.

In der Corona-Pandemie wird der demokratische Staat zum tragischen Staat. Er muss die Freiheit einschränken, obwohl er Hüter der Freiheit ist. Er muss unsere moderne Lebensweise normieren, obwohl er selber ihre Grundlagen schafft. Die Politik, die dieser Aufgabe gerecht werden muss, steht unter einer nahezu unerträglichen Spannung. Allein deswegen haben die Verantwortlichen größten Respekt verdient.

Gleichwohl ist es legitim, sie immer wieder daran zu erinnern, dass sie allen und nicht nur einzelnen Grundrechten verpflichtet sind. Wenig überzeugend sind vor diesem Hintergrund Politiker, die sich in der Beschreibung von Horrorszenarien überbieten und die Bürgerinnen und Bürger beschimpfen, weil diese angeblich zu sehr an der Freiheit hängen, die durch die Grundrechte gewährt wird.

Überzeugender sind diejenigen, denen wir abnehmen, dass sie wissen, welche Tragik für eine liberale Demokratie darin liegt, die Freiheit ihrer Bürgerinnen und Bürger einzuschränken. Dazu zählt auch, dass sie auf hohle Durchhalteparolen und billigen Trost verzichten; dass sie die Katastrophe als das benennen, was sie ist: eine Katastrophe. Und zwar nicht nur für diejenigen, die ernsthaft an Corona erkranken, sondern auch für Millionen Andere, die in Folge der Pandemie Leid erfahren.

Wenn es in der Katastrophe Trost gibt, liegt er in der Wahrheit, im Aushalten der Widersprüche und in der Klage. Wohlfeile Aufrufe, zuversichtlich zu bleiben, und das pathetische Beschwören von Gemeinsinn werden den existenziellen Grenzerfahrungen vieler Menschen nicht gerecht und lassen sie am Ende in ihrem Leid allein. Es wäre viel gewonnen, wenn wir die Kraft fänden, dieser Erkenntnis standzuhalten: Gestehen wir uns gegenseitig zu, unserer Klage Ausdruck zu verleihen!

Michael Strauss