Die Demokratie gerät unter Druck durch ein neues völkisches Staatsverständnis. Das ist mit unserem Grundgesetz nicht in Übereinklang zu bringen. Das Volk der Verfassung ist ein Rechtsbegriff, kein rechter Kampfruf. Er zielt auf Einbeziehung, nicht auf Ausgrenzung.

Demokratie, so weit sind wir uns noch sicher, ist die Herrschaft des Volkes. Aber wie das Volk seine Herrschaft ausüben sollte, ist zunehmend umstritten. Und vollends unübersichtlich scheint es zu werden, wenn wir fragen, wer denn das Volk überhaupt sei. Das stürzt die Demokratie nicht gleich in eine Krise, vor einer neuen Bewährungsprobe steht sie allerdings schon.

Die jüngsten Volksentscheide in Europa haben gezeigt, wie schwierig eine direkte Beteiligung des Volkes an politischen Entscheidungen sein kann. So sehr sie in der Theorie wünschenswert ist, führt sie in der Praxis mitunter zu fragwürdigen Folgen. Denken wir nur an den Austritt der Briten aus der Europäischen Union oder das Votum vieler Ungarn gegen eine solidarische Flüchtlingshilfe in Europa.

Während der erste Fall die Frage aufwirft, ob existenzielle außen- und wirtschaftspolitische Konstellationen in einem Referendum verantwortlich zu entscheiden sind, zeigt der zweite Fall, wie sehr Volksentscheide zum Propagandainstrument einer autoritären Regierung werden können. Die direkte Demokratie steht in der Gefahr, unterkomplexe Entscheidungen herbeizuführen, die mehr einer gefühlten als einer faktischen Wirklichkeit entsprechen.

Das allerdings scheint der Signatur unserer Zeit zu entsprechen. Selbst die Bundeskanzlerin spricht von einer „postfaktischen Gesellschaft“ und unterstreicht damit die Beobachtung, dass es sowohl politischen Akteuren als auch vielen Bürgerinnen und Bürgern auf den Wahrheitswert einer Äußerung kaum noch ankommt. Stattdessen regiert die Emotion, die sich in Ressentiments oder sogar in Pöbeleien und Hass entlädt. Die Wirklichkeit wird zum virtuellen Raum der eigenen Gefühlswelt.

In dieser gefühlten Wirklichkeit haben Populisten leichtes Spiel. Mit geschickter Rhetorik, eindrucksvoller Inszenierung und zur Schau gestellter Empörung erlangen sie die Unterstützung von Komplexitätsverweigerern, deren Zahl auch in Deutschland nicht gering ist. Sie finden ihre geistige Heimat unter anderem bei der AfD und PEGIDA, wie bei den jüngsten Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit in Dresden wieder deutlich wurde.

In geradezu infamer Weise haben ihre Wortführer die Wende-Losung „Wir sind das Volk“ gekapert. Stand diese damals für die Sehnsucht nach Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, wird sie heute von nationalistischen und rechtsextremen Kräften als Parole gegen Flüchtlinge, Asylbewerber und Zuwanderer missbraucht.

Gegen dieses Volk muss die Demokratie geradezu geschützt werden. Denn es ist offenkundig nicht das Volk, von dem das Grundgesetz in Artikel 20 spricht: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ (Absatz 2, Satz 1) Das Volk der Verfassung ist keine Volksgruppe, die sich durch eine gemeinsame Abstammung oder eine gemeinsame kulturelle Identität gegen andere definiert, sondern das Volk der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, unabhängig von ihrer Nationalität und Herkunft. Das Volk der Verfassung ist ein Rechtsbegriff, kein rechter Kampfruf. Er zielt auf Einbeziehung, nicht auf Ausgrenzung.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die repräsentative Demokratie deutscher Prägung neue Überzeugungskraft. Hier übt das Volk seine Staatsgewalt aus, indem es durch Wahlen Politikerinnen und Politiker legitimiert, für eine begrenzte Zeit die Interessen des Volkes zu vertreten. Und das auf der Grundlage von Recht und Gesetz. Die Verfassung normiert unseren Staat, nicht ein Volksmythos.

Es ist die Stärke einer repräsentativen Demokratie, dass Politikerinnen und Politiker aus Verantwortung für das Volk diesem bisweilen auch widersprechen. Sie müssen es, wenn das Volk völkischen Tendenzen nachgibt und Ressentiments, Pöbeleien und Hass freien Lauf lässt. Dann sind demokratische Politikerinnen und Politiker gefragt, die Anwälte der Verfassung bleiben, auch wenn sie dadurch angefeindet und geschmäht werden.

Dafür sind ihnen nicht zuletzt Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu wünschen, die sie genau deswegen wählen und ihnen – trotz aller notwendigen politischen Kontroversen – Respekt zollen. So schützen wir die Demokratie vor der Herrschaft des falschen Volkes.

Michael Strauss